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Mein Master-Studium in Christchurch


Unsere ersten Schritte in Neuseeland bleiben wahrscheinlich für die ganze Familie unvergesslich: Es war an einem ungemütlichen Winterabend Anfang Juli 2016; benommen von der 32stündigen Reise und völlig verloren in den Zeitzonen irrten wir an dem entlang, was wir für eine Zufahrtstraße hielten und sich tags darauf als eine der Haupteinkaufsstraßen von Christchurch entpuppte. Als wir ein Lokal gefunden hatten, blieb den Kindern kaum noch die Kraft, ihre Pommes in den Mund zu schieben. Zurück in unserem Motel drangen Wind und Baustellenlärm durch alle Ritzen, die Sprungfedern der Matratzen mit einem gefühlten Härtegrad Null machten mich leicht seekrank, und doch haben wir alle tief und fest geschlafen – bis gegen vier Uhr morgens… Am Tag danach bestand die erste Aufgabe für Jean-Paul und die Kinder darin, lange Unterhosen zu besorgen, und ich machte mich auf den Weg zur Uni, an der ich in wenigen Tagen mit meinem Master-Studium beginnen sollte.

Bildung ist ein Exportschlager

Der Wunsch in Neuseeland zu studieren ist laut amtlicher Statistik keine Seltenheit:

2016 kamen 15% aller Studierenden, die in Neuseeland einen staatlich anerkannten Hochschulabschluss anstreben, aus dem Ausland; das entspricht rund 62.000 Studierenden. Damit erwirtschaftet die Bildung als Exportartikel rund 4,5 Milliarden NZD pro Jahr für das Land mit ca. 4,7 Millionen Einwohnern.

Die Kontroverse um die Zuwanderung

Allerdings sind die die Arbeits- und Aufenthaltsrechte, die an die Studentenvisa geknüpft sind, auch Gegenstand öffentlicher Debatten. So berichtete der öffentlich-rechtliche Rundfunksender Radio New Zealand 2017 wiederholt von Missständen wie Betrug bei Visaanträgen, unseriösen Bildungsangeboten sowie der Ausbeutung von Studenten durch Arbeitnehmer.

Insbesondere die Meldung aus dem Ministerium für Wirtschaft, Innovation und Beschäftigung, das Qualifikationsniveau der Neuzuwanderer sei über die letzten 5 Jahre gesunken, schlägt zur Zeit Wellen und bringt den sozialdemokratischen Zuwanderungsminister Iain Lees-Galloway in Zugzwang. Dieser möchte verhindern, dass das Studentenvisum als “Hintertür” zur unbefristeten Aufenthaltserlaubnis benutzt wird.

Nun haben die von der konservativen Vorgängerregierung ergriffenen Maßnahmen und der allgemeine Tenor der Labour-Kampagne bzw. das Vorhaben der Labour-Regierung, Lohndumping zu bekämpfen, ohnehin bereits dazu geführt, dass insbesondere die Zahl der Visa-Antrage aus Indien drastisch zurückgegangen ist. Andererseits zahlen ausländische Kursteilnehmer ein Vielfaches der inländischen Studenten: Der Studiengang des Master of Laws (International Law and Politics), den ich 2016 belegt hatte, wird zum Beispiel in diesem Jahr für Studierende aus dem Ausland zum Preis von 32.200 NZD im Vergleich zu 7.547 NZD für Einheimische angeboten. Dementsprechend lebhaft reagierten die Bildungsträger, die Einnahmeeinbußen befürchten, auf erste Absichtserklärungen des Zuwanderungsministers.

Daher soll nun die Möglichkeit, während des Studiums auch als Ausländer einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, mit Rücksicht auf die Bildungseinrichtungen vorläufig nicht angetastet werden. Allerdings nimmt Iain Lees-Galloway jetzt die Arbeitserlaubnis nach Abschluss des Studiums ins Visier und plant, den Verbleib im Land an höhere Qualifikationsanforderungen zu knüpfen[7].

Teamgeist und Einfühlungsvermögen

Aber all das war mir natürlich noch nicht bekannt, als ich voller Neugierde und massiv unter dem Einfluss des Jetlags stehend im Juli 2016 die Hallen der University of Canterbury betrat… und mich anschickte, neben neuen politikwissenschaftlichen und völkerrechtlichen Kenntnissen auch wesentliche Einblicke in Land und Leute zu gewinnen.

Frontal traf mich die Einsicht, dass neuseeländisches Englisch ganz anders ist als die Sprache, die ich zu kennen glaubte. Der Sprachtest, der vor der Immatrikulation verlangt wird, hatte noch ziemlich gut geklappt, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass ich weder die Kassierer im Supermarkt noch die Busfahrer und schon gar nicht meine sehr aufgeschlossenen und hilfsbereiten Kommilitonen im ersten Anlauf verstand. Nach dem fünften Anlauf schwanden dann meistens meine Kräfte… Telefonanrufe lösten während des ersten Jahres bei Jean-Paul und mir leichte Panik aus und führten meist zu der kläglichen Bitte “Could you send us an email, please?”. Die Kinder hatten es da einfacher: Obwohl sie bei unserer Ankunft in Neuseeland noch nicht Englisch sprachen, war ihnen schon nach kurzer Zeit in der hiesigen Grundschule klar, dass “tin” zehn heißt.

In einem so jungen Land wie Neuseeland, das durch seine Insellage lange von vielen Verkehrsverbindungen abgeschnitten war, überrascht es nicht weiter, dass Initiative und Kreativität  in allen Lebensbereichen groß geschrieben werden. Was man nicht hat, muss man erfinden – was es nicht zu kaufen gibt, wird selbst gemacht. Die Siedler dieser beiden entlegenen Inseln haben über Generationen gelernt, sich mit Einfallsreichtum und einer Rolle Draht durch alle möglichen und unmöglichen Lebenslagen zu manövrieren; das ist die nach dem Standarddraht benannte ‘No. 8 wire’-Tradition.

Dieser Ansatz prägt auch die Studenten-Community, der ich an der University of Canterbury begegne. Tatkräftig und pragmatisch, so erlebe ich meine Kommilitoninnen und Kommilitonen. Da ich mein bisheriges Hochschulstudium im stark wettbewerbsorientierten Frankreich absolviert habe, fallen mir die selbstverständliche Bereitschaft zur Teamarbeit und das ausgeprägte Gemeinschaftsdenken besonders positiv auf. Das tiefe Erdbeben-Trauma aus dem Jahr 2011 hat in Christchurch offensichtlich unter anderem dazu geführt, dass die Menschen einander in gelebter Solidarität beistehen und besonderes Einfühlungsvermögen an den Tag legen.

Interessant erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass unsere Kinder von der Grundschule ganz ähnliche Erfahrungen mit nach Hause bringen. Gefördert werden auch dort Kreativität und Teamgeist – dem Auswendiglernen kommt hier offensichtlich kein großer Stellenwert bei der Ausbildung der Staatsbürgerinnen und -bürger von morgen zu. Führungsrollen sind übrigens für Mädchen ebenso selbstverständlich wie für Jungen – es ist vielleicht kein Zufall, dass die Geschicke dieses Landes von einer Premierministerin gelenkt werden.

Die Siedlermentalität beinhaltet auch einen guten Schuss Naturnähe, wie man dem in einem Uni-Flur angebrachtem Schild “footwear is compulsory” unschwer entnehmen kann. Das eindringliche Trillern des Maori-Glockenhonigfressers (http://www.doc.govt.nz/Documents/conservation/native-animals/birds/bird-song/bellbird-06.mp3) auf dem Campus ist für mich ein willkommenes Kontrastprogramm zu dem laut NABU “alarmierenden Vogelschwund in Deutschland und Europa”. Zwar beschrieb eine liebe Bekannte den Abel-Tasman-Naturpark als “im Sommer völlig überlaufen”, aber was hier als “völlig überlaufen” gilt, wird natürlich bei einer Bevölkerungsdichte von 18 Personen pro Quadratkilometer in Neuseeland an einer anderen Latte gemessen als in Deutschland, wo 236 Einwohner sich einen Quadratkilometer teilen.

Bilanz

Kurzum ist die ganze Familie an diesem Studienjahr in Neuseeland gewachsen. Ich habe faszinierende Erkenntnisse in meinen Fachbereichen der Politikwissenschaften und des Völkerrechts erlangt – was vermutlich bei einem einschlägigen Studium überall auf der Welt der Fall gewesen wäre. Darüber hinaus hat uns diese Zeit der Entdeckungen ermöglicht, Brücken zu einem Land, einer Lebensphilosophie und vor allem zu Menschen zu schlagen, die wir fortan nicht mehr missen möchten. Wir haben Glück gehabt: mir wurde nach abgeschlossenem Studium eine Stelle in Wellington angeboten. Die Kinder freuen sich darüber, weiter in Neuseeland die Schule zu besuchen. Jean-Paul und ich üben uns eifrig in der hier verbreiteten “can-do attitude”. Ach, und mittlerweile wagen wir auch wieder, ans Telefon zu gehen.

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